Nachhaltig Bauen sollte inzwischen eine Selbstverständlichkeit sein. Interessant ist aber die Frage, was man unter «nachhaltig» versteht.

Die Minergie-Standards orientieren sich an einem Nachhaltigkeitskonzept, das «Vorrangmodell» genannt wird. Es wird also einem Bereich Vorrang gewährt: Die Ökologie wird höher gewichtet als beispielsweise die im sogenannten Dreisäulenmodell ebenso stark verankerten Bereiche Gesellschaft und Wirtschaft. Wobei der Dreiklang «Energie, Komfort und Werterhalt» schon seit der Gründung von Minergie darauf hinweist, dass man durchaus auch bezüglich Behaglichkeit und Wirtschaftlichkeit von einem Minergie-Standard profitieren kann.

Gegenwart und Zukunft berücksichtigen

Über die Priorisierung der Umwelt lässt sich selbstverständlich streiten. Man kann sie gut begründen mit dem vom Schweizer Volk breit abgestützten Fokus auf Klimapolitik und die Energiestrategie 2050. Aber selbstverständlich darf man auch nicht um jeden Preis Energie- oder Klimapolitik betreiben. Der Brundtland-Bericht (UNO, 1987) formuliert sinngemäss, dass eine nachhaltige Entwicklung sowohl die Bedürfnisse der Gegenwart als auch jene künftiger Generationen befriedigen muss.

Ob man das gut findet oder nicht: Die wenigsten Menschen sind bereit, auf Komfort zu verzichten zugunsten der Bedürfnisse künftiger Generationen. Sie wollen auch etwas davon haben, wenn sie ein Gebäude gut bauen oder umfassend sanieren. Das bedeutet, dass eine Investition sich auch für die Bauherrschaft lohnen muss oder auch das Wohlbefinden der aktuellen Bewohnenden nicht darunter leiden soll, wenn man die Ökobilanz verbessert.

Gute Ökobilanz mit Komfortgewinn?

Beim Bauen geht das erstaunlicherweise gut zusammen. Fast alle Massnahmen, die dazu führen, dass ein Gebäude ökologisch gebaut oder saniert wird, lohnen sich längerfristig auch finanziell und erhöhen das Wohlbefinden der Menschen, die das Gebäude nutzen. Ein gute Gebäudehülle ist beispielsweise in allen Dimensionen vorteilhaft – bei steigenden Energiepreisen sowieso.

Alles bestens also?

Soweit würde ich nicht gehen. Im Einzelfall gilt es immer abzuwägen, Prioritäten zu setzen. Jeder Standort und jedes Bauprojekt ist anders. Die Möglichkeiten, Vorlieben und Perspektiven unterscheiden sich. Die Nachhaltigkeit lebt von ihren Widersprüchen und Schnittstellen. Entsprechend muss auch ein Baustandard, der der Ökologie Vorrang gewährt, Flexibilität bieten, was die Architektur, Materialisierung, Haustechnik usw. angeht.

Die Minergie-Standards bieten diese Flexibilität, das beweisen die über 50 000 zertifizierten Projekte: Hochhäuser, Schulen, Einfamilienhäuser, Neubauten und Sanierungen, Holz- und Massivbauten etc. Aber nur mit kluger Architektur und sorgfältiger Planung holt man aus Minergie das Maximum heraus.

Wie geht es weiter?

In der Weiterentwicklung der Minergie-Standards sind drei Schwerpunkte erkennbar: höhere Klimafreundlichkeit, Effizienzsteigerung und Hitzeschutz. Erstens werden nun bei Minergie auch in der Erstellung mehr Effizienz und weniger Treibhausgasemissionen gefordert. Zweitens ist die Energieeffizienz im Betrieb weiter zu steigern, auch im Neubau. Und drittens sind die Nutzenden besser vor der immer häufiger werdenden Sommerhitze zu schützen.

Autor

Andreas Meyer Primavesi, Forstingenieur ETH Zürich und Betriebswirt, ist seit 2016 Geschäftsleiter von Minergie Schweiz. Davor war er unter anderem für den Aufbau und Betrieb des nationalen Gebäudeprogrammes verantwortlich und in der Entwicklung von nachhaltigen Arealen tätig.
www.minergie.ch